6. Recycling anno dazumal


Ortsbezeichnung: Leng Flüe (Zer lengu Flüe)

 

Recycling anno dazumal - Aus einem Haus wird ein Stall

Aus einem abgetragenen Wohnhaus wurde dieser Stall errichtet. Eine Stubenbinde (Deckenbinde) mit zwei geschnitzten Rosetten wird als Wandholz wiederverwendet. An anderen Balken erkennt man Fensteröffnungen. Bauholz wurde wiederverwertet und nicht einfach entsorgt. 

 

 

Details zu Recycling anno dazumal

Die kleine Stallscheune liegt auf ca. 1770 m ü. M. und schmiegt sich an die Felswand. Ein Pultdach aus Steinplatten deckt es. Im Inneren sehen wir längs der Wand entlang die Futterkrippen. Die Löcher an den Wänden der Futterkrippen weisen darauf hin, dass hier Schafe oder Ziegen gestallt wurden, die neben den Äckern im felsigen Gelände der Umgebung weideten.

 

Beim näheren Hinsehen aber entdeckt man Dinge, die nicht zu einem Landwirtschaftsgebäude gehören. In einem Balken der bergseitigen Innenwand ist eine rechteckige Öffnung ausgehauen, umrandet von einer breiten Nut. Es handelt sich um einen Teil eines kleinen Fensters, wie es für sehr alte Häuser typisch ist. Verschlossen wurde dieses im Winter mit einem Rahmen, der mit lichtdurchlässiger Tierhaut bespannt und in die Nut eingelassen wurde. Die zweite Hälfte dieser Fensteröffnung entdecken wir in der talseitigen Wand des Stalls. Hier verbaute man beim Errichten dieses Kleinviehstalls Teile eines alten Wohnhauses. 

 

Auffallend ist auch über dem Eingang das dicke Wandholz, in das zwei grosse Rosetten eingekerbt sind. Es handelt sich um einen Bindebalken, der in der Wohnstube die Decke trug. Dieser Balken wurde auf die Schmalkante aufgestellt und man kann an der Ober- und Unterseite die Nut ertasten, auf der einst die Deckenbretter auflagen. 

  

Die meisten Wohnhäuser nach 1550 / 1600 tragen auf dieser Deckenbinde die Jahreszahl (Baudatum), einen frommen Spruch oder die Namen der Eigentümer. Noch ältere Bauten aber führen auf der Deckenbinde höchstens hie und da eine Rosette oder eine andere Verzierung. Solche Bauten stammen aus dem Spätmittelalter, dem Zeitraum zwischen ca. 1300 und 1500. Auch hier war der Dendrochronologe an der Arbeit und Martin Schmidhalter verrät uns das Alter. Wir haben die Binde richtig interpretiert: Das Holz für den Bau des einstigen Hauses wurde 1401 gefällt. 

  

Wir wissen nicht, wo das kleine, mittelalterliche Wohnhaus einst stand. Mit dem Holz errichtete man hier unter der Lengu Flüe einen Stall – ein klassischer Fall von Recycling! Lohnte sich dieser Aufwand, fragt man sich angesichts der mühsamen Transporte? Und stand hier sogar ein zweites Gebäude, wie die sorgfältig gemauerte Bruchsteinwand ein paar Schritte entfernt am südlichen Rand der kleinen Fläche vermuten lässt? 

  

Damals musste Bauholz in mühsamer Handarbeit gefällt und dann mit Beilen behauen werden. Fertige Kanthölzer waren etwas wert. Das Holz alter oder von der Lawine zerstörter Gebäude wurde nicht einfach weggeworfen oder verbrannt. Einigermassen intakte Kanthölzer wurden beim Neubau anderer Bauten eingesetzt und dafür oft mehrere Kilometer weit transportiert, auf dem Rücken der Maultiere oder von mehreren Männern getragen. Das war immer noch einfacher, als eine Erlaubnis für das Fällen neuer Bäume einzuholen und dann die tagelange Arbeit im Wald zu beginnen. 

  

Über das ganze Erdgeschoss entnahm Martin Schmidhalter sieben Proben mit Splint, die zwischen 1375 und 1401 datieren und auf das Fälljahr 1401 weisen. Das gesamte Wandgeviert des Stalls wurde also aus dem Holz dieses Wohnhauses erstellt. 

  

Der abgeschrägte Aufbau mit dem Pultdach hingegen ist neuer: Hier datieren zwei Balken aus dem Jahr 1760. Vermutlich wurde damals das alte Haus abgebaut, hierhergebracht, als Stall aufgestellt und der Heuraum und das Pultdach mit neuem Holz erstellt. 1887 ist eine dritte Bauphase fassbar, als das Dach erneuert und mit Steinplatten eingedeckt wurde. Der schneereiche Winter 2017/2018 drückte das Dach ein und das Gebäude wurde im Sommer 2018 sanft saniert. 

    

Dieser Stall mit dem wiederverwerteten Holz ist also ein Kronzeuge der sogenannten Knappheitsgesellschaft, in der man sich für ein Überleben in bescheidensten Verhältnissen tagtäglich anstrengen musste. Jedes irgendwie wiederverwertbare Ding wurde abgeändert und weiter gebraucht – sogar alte Häuser waren noch gut für etwas.