Die Auswanderung der Zermatter ins Val d`Hérens ab dem 14. Jahrhundert


Erst willkommen - dann unerwünscht

 

Schon seit Menschengedenken bestand zwischen Zermatt und dem Val d’Hérens (Eringertal) eine enge, kirchliche wie familiäre Beziehung. 

 

So ist es nicht verwunderlich, dass gerade zur Zeit der hochmittelalterlichen Klimagunst eine Wanderbewegung von Zermatt über den Col d’Hérens (Eringerpass) in Richtung Val d‘Hérens einsetzte. Der Col d’Hérens spielte laut Forschern wie Alfred Lüthi oder Friedrich Röthlisberger schon in der Römerzeit als Übergang vom Rhonetal via Theodulpass ins Aostatal eine wichtige Rolle. Hans-Robert Ammann, ehemaliger Staatsarchivar in Sitten, konnte in intensiver Forschung im Val d‘Hérens zahlreiche Geschlechter mit Zermatter Ursprung nachweisen.

 

Die Auswanderer liessen sich zuerst oberen Teil des Tales nieder, vorab in Evolène oder St. Martin, wo sie weiterhin als Bergbauern lebten. Manche zogen auch weiter ins Rhonetal bis nach Brämis und Sitten. Vor allem die kleine Bischofsstadt, die so ganz anders war als ihr einfaches Bergdorf, übte eine grosse Anziehungskraft aus.

 

Die neu Eingewanderten verdienten dort ihren Lebensunterhalt als Handwerker und Kaufleute. Viele wurden in dort ins Burgerrecht aufgenommen, kamen zu Ansehen und Reichtum und bekleideten nicht selten wichtige politische Ämter. 1446 befanden sich unter den Landratsboten der Stadt Sitten sechs ehemalige Zermatter. Aus notariellen Akten ist bekannt, dass die reichen Auswanderer ihr Leben lang die Beziehungen zu ihrer Urheimat weiter pflegten. Sie behielten ihrer Güter, vergrösserten ihren Besitz und kehrten mindestens einmal im Jahr nach Zermatt zurück.

 

Wann genau diese Einwanderungswelle einsetzte, lässt sich nicht feststellen. Sicher ist, dass zwischen 1420 und 1460 in der Region Ering, Sitten und Siders die meisten notariellen Akte mit rund 65 Familiennamen aus Zermatt anzutreffen sind. Möglicherweise fanden die ersten Einwanderungen schon in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts statt, und Willermus Perreti von Eyson, der 1381 unter den Männern der Gemeinde St. Martin aufgelistet wird, könnte der erste Zermatter sein. Die Perren sind im Val d‘Hérens schon in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts nachgewiesen.

 

Im XV. Jahrhundert waren die initiativen und arbeitsamen Einwanderer im Val d‘Hérens offenbar willkommen. Ab ca.1520 manifestierte sich dagegen der Wille einer Abschottung gegenüber fremden Zuwanderern. 1527 in Evolène, 1543 in Brämis, 1558 in Mase oder 1603 in Nax erliessen die Gemeinden strenge Statuten und Richtlinien.  Sie verboten den Verkauf und die Benutzung von Gemeindeland durch Fremde. Ja sogar das Aufnehmen und Beherbergen von sogenannt unnützen Einwohnern (incolae) wurde untersagt. Dieses Misstrauen aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen, gepaart mit dem Vorstossen der Gletscher, brachte im XIV. Jahrhundert die Einwanderung von Zermattern ins Val d‘Hérens allmählich zum Erliegen.

Der Gründe für die Auswanderung

 

• Bevölkerungswachstum, Probleme mit der Selbstversorgung

• Nahrungsmangel, Naturkatastrophen, Missernten

• Handelsbeziehungen

• Arbeit in fremden Diensten, Vergrössern des Besitzes, Beschaffung von Kleidern und Nahrungsmitteln

• Persönliche Gründe: Konflikt mit dem Gesetz

• Berufliche Gründe: Weiterbildung 

• Abenteuerlust, Kriegsdienste, Söldnerwesen

• Steuerdruck, zu hohe Abgaben (für Zermatt wohl nicht so wichtig)

 

Text: Hans-Robert Ammann

Bearbeitung: Klaus Julen