14. Der Weiler Zmutt - ein Fazit


 

Zmutt - Momente aus 800 Jahren...

All die Bauten mit ihren wilden Gwätten, einem Spillbord, der firstqueren Binde und weiteren baulichen Details - wozu? Interessierte Lesende können jetzt nachvollziehen, welche äusserlichen Merkmale der Gebäudeforschung auf einen ersten Blick weiterhelfen. Diese Indizien erlauben es, auch ohne aufwändige Dendro-Analysen die Bauten zu deuten und deren Alter meist zielsicher einer Epoche zuzuordnen. Das Resultat ist in der Tat erstaunlich: Die Dendrodaten bestästgen, dass wir hier in einer Siedlung stehen, die zwischen ca. 1300 und 1500/1600 erbaut wurde. Was seither dazu kam, fügt sich in Blockbauweise harmonisch ins gewachsene Bild ein. Andersartige Neu- oder Umbauten blieben die Ausnahme. Im Weiler Zmutt auf 1930 Metern Höhe stehen wir nicht nur in der ursprünglichsten Siedlung Zermatts, sondern in einem der ältesten bis dato bekannten Weiler der Schweiz und des Alpenraums. Doch gibt es Spannenderes als Superlative.

 

Die Stadel und Ställe, die Wohnungen und Kammern zeigen, in welchen Grössenordnungen die Menschen hier vor Jahrhunderten lebten und wirtschatteten. Die Wohnstuben und die Küchen, in denen sich das Leben abspielte, waren nur 10 bis 20 Quadratmeter gross. In der Küche brannte ein offenes Feuer. Das Wasser holte man am Brunnen, in den gemauerten Küchenräumen gefror es im Winter in den Eimern. Ein Specksteinofen (oder dessen Vorgänger aus Feldsteinen) heizte die Stube, der einzige einigermassen warme Raum des Hauses. Schafe, Ziegen und Rindervieh überwinterten in kleinen Ställen, das Vieh hirtete man täglich. Und wo heute grasbewachsene Furchen die ehemaligen Ackerparzellen verraten und Trockensteinmauern von Terrassierungen zeugen, wuchs Getreide. Der Roggen wurde in Stadeln eingelagert und dort  gedroschen; Brot und Breispeisen gehörten zu den Grundnahrungsmitteln. Nach einem weiteren Gebäudetyp dieses weitgehend auf Selbstversorgung beruhenden Systems aber suchen wir in Zmutt vergeblich: Es fehlen die Speicher, die wichtigen Vorratsbauten (Lebensmittel) und ‚Schatzkästen' des Bauern! Die heute erstellbare Gebäudestatistik von Zmutt beinhaltet 6 alte Wohnhäuser, 25 grössere und kleinere Stallscheunen (dazu 4 abgerissene, macht 29), 4 Stadel (dazu 2 abgerissene, macht 6), 1 Brunnen (offene Anlage, ungedeckt), 1 Kapelle – und 0 Speicher!

 

Diese Zahlen geben Rätsel auf: Das Wallis kennt in traditionellen Verhältnissen keine dauerhaft bewohnte ländliche Siedlung ohne Speicher – das wäre wie heute ein Haushalt ohne Kühlschrank und ohne Guthaben. Die Lösung mag in folgendem Umstand liegen: Einerseits konnten Kammern und Keller die Funktion der Speicher übernehmen und dem Verwahren von Lebensmitteln dienen. Und vor allem: Speicher gehören in der Walliser Getrenntbauweise zu den kleinsten Gebäudetypen. In Zermatt selbst und entlang des weiteren Kulturweges sind Exemplare zu sehen, die lediglich 3 auf 4 Meter messen. Sie liessen sich leicht abbauen und an einem anderen Standort wieder aufstellen, als man in Zmutt die ganzjährige Besiedlung aufgab.

 

Ähnlich dürfte es sich um ein zweites Rätsel verhalten: die kleine Zahl an Wohnhäusern, die mit 6 Objekten lediglich 14% des historischen Gesamtbestandes ausmachen. Die Bevölkerungszahl aber spricht eine andere Sprache: eine Urkunde des Jahres 1476 nennt 54 Namen, vielleicht entspricht dies Haushaltungen, womit allerdings nicht nur Zmutt, sondern das ganze östlich angrenzende Plateau gemeint ist, mit den Orten Üssers Zmutt, Staffla, Wigguhüs, Aroflüe – die Gegend, durch die der Kulturweg nach Zmutt am Schluss heraufführt. Leider finden sich in der Urkunde keine Grenzangaben zwischen den Vierteln und so bleibt unbekannt, wie weit der Viertel „illorum de mut“, jener von Zmutt, damals reichte. Doch figurieren unter den Leuten von Zmutt auch ein „curatus, loci vicarius et altarista loci“, ein Pfarrer, ein Vikar und ein Altarist des Ortes, also drei Geistliche. Reichte das Territorium des Viertels Zmutt demnach herunter bis in den südwestlichen Teil des heutigen Dorfes Zermatt, wo nahe des Triftbaches spätestens im 16. Jahrhundert die Pfarrkirche stand? Dann würden sich die 54 Haushaltungen über das gesamte Gebiet des vorliegenden Kulturweges erstrecken, von der Kirche Zermatt bis hinauf nach Zmutt.

 

Mit welcher Bevölkerungszahl ist nun zu rechnen? Geht man, wie es auch der Historiker Hans-Robert Ammann für die spätmittelalterliche Auswanderung aus Zermatt annimmt, von einer durchschnittlichen Haushaltgrösse von 3 bis 4 Personen aus, wäre das Gebiet von etwa 150 bis 200 Personen bewohnt gewesen. Folglich müssten in Zmutt deutlich mehr als 6 Wohnhäuser existiert haben. Hofstätten (Gebäudegrundrisse, Ruinen) finden sich aber weder im Gelände noch innerhalb der Siedlung.

 

Was passiert ist, zeigen Blicke auf abgegangene Siedlungen an anderen Orten des Wallis. Dort stellt man gleich zwei Dinge fest: Werden dauerhaft besiedelte Plätze aufgelassen, entstehen anstelle der Wohngebäude oft Wirtschatssbauten, also statt Häuser nun Stallscheunen. Dies erklärt auch die überdurchschnitllich vielen  Stallscheunen, die heute das Bild von Zmutt prägen. Und zweitens: Die Häuser wurden abgebaut und an einem neuen Ort wieder aufgestellt. So geschah es etwa nach Lawinenunglücken, so geschah es im Verlauf der Kleinen Eiszeit, als das Klima sich verschlechterte und ein Überleben in den hoch gelegenen Siedlungen erschwerte, ja verunmöglichte.

 

Andernorts wurden die zerstreut in der Landschaft liegenden, vor allem die hochgelegenen Siedlungen im Verlauf des 17./18., spätestens des 19. Jahrhunderts verlassen. Man spricht von einem Konzentrationsprozess, der die Walliser Siedlungslandschaft veränderte: Hatten bisher Weiler und Einzelhöfe das Bild einer Streusiedlungslandschaft geprägt, kam es nun zur Bildung grösserer Dörfer, sogenannter Haufendörfer, in denen sich das gesellschaftliche Leben konzentrierte. Hier standen die neuen Burgerstuben und Gemeindehäuser, hier baute man die neue Kirche und den Gemeindebackofen, hier richtete man später die ersten Schulstuben ein. Aus den umgebenden Weilern zog die Bevölkerung ins Hauptdorf – und nahm oft das Wohnhaus mit.

 

Eine der häufigen Fragen lautet: Wie lange war Zmutt, das ja deutlich über der Dauersiedlungsgrenze von ca. 1700 m liegt, ganzjährig bewohnt? Aus der Geschichte sind einige Daten bekannt: 1476 teilte man im Talkessel von Zermatt die Territorien neu auf. Die Urkunde führt Einzelpersonen auf wie jenen „steffen zerlengenflue“, Erbengemeinschaften wie die „heredes [Erben] nicodi zemmilistein“, mehrere Brüder und Söhne werden genannt, auch Schwestern und Witwen, Senioren und Junioren. Was entsprach jeweils einem Haushalt? Die bisherige Literatur nimmt 182 Haushaltungen an. Deren Abgeordnete schufen 1476 vier verwaltungsmässig  selbständige Viertel, nämlich „de curis“ (Hof, 39 Haushalte, Quartier bei der heutigen Kirche/Dorfplatz), „de wichilmatton“ (Winkelmatten, 43 Haushalte, südöstlicher Teil des heutigen Zermatt), „de aroleyt“ (Aroleit, 46 Familien, südlich von Zermatt die Region Furi, Zum See, Blatten) und „de mut“ (Zmutt, 54 Familien).

 

Diese Urkunde von 1476 ist uns wertvoll, denn in jenen Jahrhunderten sind Angaben zur Bevölkerungszahl selten. Hier aber wird ersichtlich, dass das Hochplateau mit den Örtlichkeiten Aroflue, Wigguhüs, Staffla, üsser Mutt und Zmutt besiedelt gewesen sein muss, ebenso in Richtung Dorf die Plätze Lange Fluh, Herbrig und Balma bzw. Schluocht. Auch hier fand Hans-Robert Ammann einschlägige Beweise, so 1435 ob der „Arunfluo“, wo Hans Draxol, Sohn des Jannen Ze Schluochtmatton, Lehensmann einer Wiese mit den dazugehörigen Gebäuden ist, 1494 präzisiert „cum universis domibus

et edificiis desuper sitis et constructis“, also mitsamt allen Häusern (oder Hausanteilen?) und weiteren oberhalb gelegenen Bauten.

 

Dieses Viertel stellte das bevölkerungsreichste Gebiet Zermatts dar. Das Dörflein Zmutt muss damals mindestens im heutigen Umfang dagestanden sein, wobei sich anstelle des einen oder anderen Gädi (Stallscheune) damals ein Wohnhaus befand. Diese waren allem Anschein nach permanent bewohnt und man hiess sie ‚Häuser': Hans-Robert Ammann fand in den Urkunden für Zmutt nicht nur Wiesen und Wasserleiten, Allmenden und Äcker, sondern 1443 auch einen Beleg „im Mutt zen Husren“ und 1521 „im Mutt zen Hiisren“ – wären es nur zeitweilig besetzte Maiensässstübchen gewesen, hätte man nicht von Häusern gesprochen. Und: Die heute noch hier stehenden alten Häuser entsprechen in Art und Grösse exakt jenen der tiefer liegenden Dauersiedlungsbereiche.

 

In den folgenden Jahrhunderten funktionierte Zmutt als eigenständiger Viertel, bis sich 1791 die politisch kleinräumig organisierten Gemeinwesen zur grossen Gemeinde Zermatt zusammenschlossen. Diese Fusion entspricht einer im Wallis des 18. Jahrhunderts feststellbaren Tendenz, bei der Weiler ihre Selbständigkeit aufgeben und es zur Bildung grösserer Gemeindeterritorien unter Anführung eines Hauptdorfes kommt – was aber nicht zwangsläufig heisst, dass die Weiler ganz verlassen und zu Siedlungswüstungen werden. Auch im Falle von Zermatt heisst es für 1798, es seien immer noch elf Weiler rund um Zermatt ganzjährig bewohnt. Dazu gehörte auch Zmutt. Noch die Volkszählung von 1798, eine der frühen mit absoluten Zahlen, nennt für Zmutt 10 Wohnbauten und 14 andere Gebäude. Doch der demographische Trend zeigte abwärts. 1802 zählte die ganze Gemeinde 436 Einwohner, die Zahl sank bis 1850 auf 369. Spätestens in dieser Zeit dürften die letzten ganzjährigen BewohnerInnen Zmutt verlassen haben. Dies wird umso verständlicher, als um 1860 im letzten Höhepunkt der auslaufenden Kleinen Eiszeit die Gletscher nochmals einen Höchststand erreichen.

 

Den bisherigen Klimaverschlechterungen, die um 1400, 1600 und 1700 schon zu Jahrzehnten mit tiefen Jahresdurchschnitstemperaturen geführt hatten, konnte der hochgelegene Weiler trotzen. Dies nicht zuletzt wegen seiner strategischen Lage: Zmutt ist eine Station am Fuss von gleich drei Pässen. Über Zmutt führt die Route nach dem Col d'Hérens hinüber ins westlich angrenzende Eringtal und von dort hinunter nach der Hauptstadt Sitten. Nach Süden/Südwesten führen der Col de Valpelline und der Theodulpass hinüber ins Aostatal und von dort hinunter in die Poebene. Zmutt war die letzte Station am Fuss dieser Pässe, bevor man eine anstrengende Tagesreise antrat. Hier wurde gerastet, verpflegt, übernachtet – ein wichtiger Ort, der dank Warentransporten und Personenverkehr über die Pässe ganzjährig besiedelt blieb. Dieser Verkehr aber war nun stark rückläufig – inzwischen hatte ein neues Verkehrsmittel die alten Handelsrouten überflüssig gemacht und eine neue

Mobilitätsgeographie geschaffen: die Eisenbahn.

 

Wir stehen vor einer strukturellen Veränderung, wie sie in der Regel aus mehreren Gründen entstehen. Auch in Zmutt war der Wandel ein multifaktorieller: Es war nicht nur das Klima, es war nicht nur der Konzentrationsprozess in der Siedlungslandschaft mit dem Anwachsen der Haufendörfer infolge einer Tendenz zu gesellschaftlichen Zusammenschlüssen. Es war auch der Niedergang des Passverkehrs, der im Verlaufe des 19. Jahrhunderts dazu führte, dass Zmutt als ganzjährig bewohntes Dörflein aufgegeben wurde und fortan nur noch eine zeitweise aufgesuchte Maiensässsiedlung war. Daran änderte auch die Investition in die Kapelle nichts mehr, die man in den 1810er Jahren tätigte. Der hochgelegene, in den Wintermonaten im Schatten liegende

Weiler blieb leer – das gleich hoch liegende und der Sonne zugekehrte Chandolin (1936m) im Val d'Anniviers mit seiner vom Verkehr weitgehend unabhängigen Selbstversorgungswirtschaft konnte sich noch eine Weile halten. Hier führte erst der sozioökonomische Wandel des 20. Jahrhunderts zu einschneidenden Umstellungen an einem Ort, dessen ganzjährige Besiedlung sich aber bis heute hielt.